Es ist Samstag, der 06. Juli 2019. Ich sitze im Zug mit meinem bepackten Gravelbike – eine neue Radgattung, die eine Mischung aus Rennrad und Mountainbike darstellt – auf dem Weg nach Basel in der Schweiz. Dort startet morgen um 8 Uhr das wohl härteste Radrennen in Deutschland – die Bikepacking Trans Germany. Das 1.659 km lange Rennen wird im Selbstversorgermodus ausgetragen, d.h. jeder ist für sich selbst und sein Durchkommen verantwortlich, es gibt keinerlei Unterstützung oder Verpflegungsstationen vom Veranstalter. Und es wird offroad gefahren, im Gelände, durch den Wald. Ich bin nervös.

 150 Teilnehmer haben sich dieses Jahr gemeldet. Sie kommen aus aller Herren Länder. Das Rennen wird seit 2016 ausgetragen und die Teilnehmerzahl verdoppelt sich jährlich. Es sind dennoch nicht wirklich viele, die sich dieser Strapaze aussetzen, vergleicht man es z.B. mit dem Jedermann-Rennen Hamburg Cyclassics, bei dem jährlich über 20.000 an den Start gehen. 

Ist mein Rad mit seinen 24 kg vielleicht doch zu schwer? Hätte ich das Zelt vielleicht zu Hause lassen sollen? Werde ich allein auf mich gestellt immer rechtzeitig Wasser finden? Habe ich auch wirklich alle meine Powerbanks aufgeladen? Solche Fragen gehen mir durch den Kopf.
In Freiburg steige ich um. Schon auf dem Bahnsteig erkenne ich untrüglich weitere Teilnehmer der BTG an ihren mit den speziellen Bikepacking-Taschen übersäten Fahrrädern. Im Zug geselle ich mich zu ihnen. Lars und David aus Berlin sind zwei nette Typen. Wir reden über unsere Räder und über avisierte Zielzeiten. Lars erzählt mir, dass er die toughen Tracks durch´s Gelände letztes Jahr nicht geschafft hat, offiziell ausgestiegen war, aber über normale Radwege noch bis in den Zielort Rügen gefahren ist. Da ich mir selbst sehr unsicher bin, wie es mir ergehen wird, finde ich diesen Gedanken sehr tröstlich.
David hingegen, ein junger, kräftiger Typ, hat sich vorgenommen, 270 km pro Tag zu schaffen. Das ist auch meine geplante Kragenweite und ich merke mir vor, dass das jemand sein könne, mit dem ich zusammen fahre, wenigstens ein Stück. Denn ich weiß, dass die Fahrt sehr einsam wird. Die Teilnehmer werden wahrscheinlich schon kurz nach dem Start anfangen, sich auf die fast 1.700 km lange Strecke zu verteilen. Eine solche Distanz ist nur auszuhalten, wenn man sein eigenes Tempo fährt.

In Basel ankommend, steigen noch etliche weitere Teilnehmer aus dem Zug, wir helfen einander beim Zusammenbau der Fahrräder (die Mitnahme ist in Deutschland ohne Reservierung viele Monate im Voraus schon schwierig, über Landesgrenzen hinweg schier unmöglich). Gemeinsam rollen wir zum Freibadgelände, auf dem das vorabendliche Gathering mit der Fahrerbesprechung und einem gemeinsamen Grillen stattfindet. Wie ich die vielen Zelte und bepackten Räder sehe, werde ich schlagartig ruhig. Nun bin ich angekommen. Die anderen haben dieselben Gegenstände mit, ihre Räder sehen auch schwer aus. Und ich hab bereits Kontakt zu diversen Leuten. Jan aus Berlin, dem ich beim Aufbau auf dem Bahnsteig half, schlägt sein Zelt neben meinem auf und wir rollen zum nächsten Supermarkt, um uns was für den Grill zu besorgen.
Es gibt einige wenige, die in Gruppen an den Start gehen, aber die meisten sind wie ich alleine. Die Stimmung ist entspannt und man findet schnell zueinander. Aufgrund des internationalen Starterfeldes wird die Fahrerbesprechung von Achim und Thomas auf Englisch gehalten, was natürlich dazu führt, dass einige Deutsche nichts verstehen. Es wird vor Hütehunden, abgerutschten Wegen und Waldarbeiten gewarnt. Vor allem solle man darauf achten, vor der Grünen Hölle die Wasserflaschen zu füllen, denn dann komme lange nichts mehr. Ich weiß das. Ich habe geübt und festgestellt, dass es im Wald weder Wasser noch Steckdosen, geschweige denn einen Supermarkt oder ein Restaurant gibt. Selbstversorgermodus eben. Ich weiß auch, dass wenn man schnell sein möchte, möglichst auf Schlaf verzichtet und so lange im Sattel gesessen werden sollte, wie nur irgend möglich. Ich bin nicht unvorbereitet. Aber dann kommt doch alles anders als erwartet.

Am Starttag geht morgens ein furchtbares Unwetter über uns weg. Um 5 Uhr morgens gießt es wie aus Kübeln. Aber wir haben Glück – als ich mich um 6 Uhr aus dem Zelt schäle, hat es aufgehört. Ich packe zusammen, bin froh, dass ich aufgrund der Mücken in einem Zelt schlafen konnte. Die Teilnehmer mit einem Tarp (ein dachähnliches Gestell) oder gar einem Biwaksack (ein wasserfester Schlafsack) sind heute Nacht von den Mücken fürchterlich zerstochen worden und haben kaum ein Auge zugetan. Aber Schlaf wird für die meisten in den nächsten Tagen ohnehin eine Mangelware werden.
Ich drücke mir eine Banane und ein paar Waffeln rein und will zum Startplatz losrollen. Da kriecht neben mir Jan aus seinem Zelt und bemängelt, dass er weder einen Kaffee noch Frühstück gehabt habe und das Rennen jetzt schon nicht leiden kann. Ich kann nicht auf ihn warten und fahre zum Start. Dort spricht mich der einzige norwegische Teilnehmer an. Ein junger Typ, der schnell aussieht. Sympathisch. Vielleicht fahre ich mit ihm? David aus Berlin fährt mit seinen kettenrauchenden Freunden, von denen ich mir unsicher bin, ob die weit kommen werden. Den einzigen anderen Schweden habe ich zu diesem Zeitpunkt aus den Augen verloren.
Als der Start fällt, rollen die 150 Teilnehmer behäbig los. Und obwohl dies ein Rennen ist, das wahrlich nicht auf den ersten Kilometern gewonnen wird, wird vorne ein schrecklich hohes Tempo gefahren. Meiner Gewohnheit gemäß hänge ich mich an die Spitzengruppe ran. Ich fühle mich wie in einem Rennradrennen. Die ersten 90 km vergehen wie im Flug, wir haben einen Schnitt von fast 28 km/h. Normalerweise kann von maximal 20 km/h ausgegangen werden. Das Rennen ist also jetzt schon anstrengend. Ich rede mit niemandem und konzentriere mich darauf, nicht aus der Gruppe zu fallen.

Als wir den Abschnitt Grüne Hölle erreichen, zerfasert die Gruppe schlagartig. Der Abschnitt ist ein Flussbett, ein Wanderpfad, der steil bergauf führt. Schieben und tragen des Rades sind jetzt angesagt. Jetzt stelle ich fest, dass ich in der Gruppe aus 15 Mann der einzige bin, dessen Rad wirklich schwer ist. Die anderen haben kaum Taschen am Rad und ich frage mich, wie sie die Reise ohne Equipment durchstehen wollen. Ich habe wie gesagt ein Zelt, einen Schlafsack, eine Luftmatratze, eine Küche, Wechselklamotten und Essen mit. Jedes Teil ein handverlesenes Superlightweight-Produkt, aber in Summe doch recht viel. Ich fluche über das schwere Ding, während die anderen scheinbar mühelos ihre Mountainbikes den Pfad hochwuchten.
Nach diesem schweißtreibenden Abschnitt kommt ein langer steiler Anstieg auf Schotter, an dessen Anfang ich mir bei km 90 einen Platten reinfahre. Ich bleibe stehen und flicke mein Hinterrad. Meine Minipumpe verweigert den Dienst, ich bekomme nicht wirklich Luft in den Ersatzschlauch. Aber fast jeder Teilnehmer, der an mir vorbeifährt fragt mich, ob ich Hilfe brauche. Ich halte einen an, um mit seiner Pumpe das Werk zu vollenden. Er ist entspannt, sagt, er wollte ohnehin seine Flaschen umfüllen und eine kleine Pause machen. Herrlich. Sowas gäbe es nicht in einem Straßenrennen.


Als ich weiterfahre, ist das Fahrerfeld zerstückelt. Zu mir schließt ein Constantin auf, mit dem ich jetzt anfange zu plaudern. Und wie ich es von dieser Art von Rennen kenne, wird daraus ein sehr nettes Gespräch. Bei km 128 reist mir dann eine Speiche am Hinterrad. Constantin wartet, während ich den gröbsten Schlag aus dem Hinterrad herauszentriere, damit ich weiterfahren kann. Aber diese beiden Pannen demoralisieren mich sehr. Ich bekomme Zweifel, ob mein Rad durchhalten wird. Es wird halten und dies soll die letzte Panne gewesen sein. Dass ich es bin, der nicht durchhalten wird, ahne ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Gegen 16 Uhr Nachmittags mache ich die erste richtige Pause. Ich verschlinge in einem kleinen schwäbischen Dorf einen vegetarischen Döner, eine Pommes und einen Liter Cola und bin immer noch hungrig. Im selben Dönerladen treffen noch weitere Teilnehmer ein. Alle sind von den sich mittlerweile aneinanderreihenden harten Anstiegen sehr erschöpft. Ich fahre mit einem Florian und Daniel weiter. Daniel hat bis auf eine Lenkertasche quasi nichts an seinem Mountainbike. Er sagt mir, er müsse sein Alter von 58 Jahren durch ein leichtes Rad ausgleichen. Er hat im Grunde nur einen Schlafsack und ein paar zusätzliche Klamotten für Wind und Regen mit, sonst nichts. Für die Snacks während der Fahrt hat er sich eine Halterung aus einer aufgeschnittenen PET-Flasche gebaut, die allerdings nicht viel taugen, da durch das Gerüttel auf den unbefestigten Wegen seine Schokoriegel herausfallen. Überhaupt ist im Grunde keins der eingesetzten Räder mitsamt Transportsystemen von der Stange. Viele selbstgebaute Räder und Transportlösungen, wie sie in keinem Katalog zu finden sind. Die Szene ist noch recht klein und jeder baut sich das zurecht, was in diesen Extrembedingungen gut funktioniert.

Ich wollte heute den ersten Checkpoint nach 220 km schaffen und ein bisschen was darüber hinaus. An der nächsten harten Steigung lasse ich die beiden hinter mir. Kurz vor dem Checkpoint werde ich von Michi aus Bayern eingeholt. Ein fröhlicher Geselle, der mit seinem selbst zusammengestellten 29er Dropbar unterwegs ist – oben sieht es durch den Lenker aus wie ein Rennrad, der Rest ist jedoch eher ein ungefedertes Mountain-Reiserad mit 58 mm breiten Stollenreifen und extrem leichten Gängen. Seine Radtaschen sind von seiner Frau handgenäht, wie ich später erfahren werde. Während ich schiebe, fährt er also gut gelaunt die steilen und von Wurzeln überzogenen Waldwege hoch. Aber ich hole ihn oben wieder ein und wir erreichen zusammen den ersten Checkpoint.

04

Bis dahin haben wir uns schon angefreundet und beschließen, gemeinsam nach einer überdachten Waldhütte für die Nacht Ausschau zu halten. Dadurch erspare ich mir Auf- und Abbau des Zeltes. Aha, so macht man das also ohne Zelt, denke ich mir. Überhaupt werde ich auf der Reise viele meiner romantischen Vorstellungen über Bord werfen. So dachte ich, dass ich unterwegs mal zur Erfrischung in einen See springen würde und meine Radklamotten darin auswaschen würde (ich habe noch einen zweiten Trikotsatz mit). Ich dachte, ich würde mich morgens rasieren, aber darauf habe ich bereits am Starttag verzichtet, als eigentlich noch gut Zeit gewesen wäre. Jetzt ist für nichts Zeit. Während ich den Gaskocher in der Waldhütte anschmeiße, verzehrt Michi schon ein kaltes Abendessen, dass aus Brötchen und Auflage besteht, die er zuvor in einem Supermarkt proviantiert hat. Mein warmes Mahl schmeckt mir dennoch und tut gut. Wir sind allein in der Waldhütte. Zum Glück gibt es hier keine einzige Mücke. Als wir uns um kurz nach Mitternacht in die Schlafsäcke verkriechen, habe ich keine Kraft mehr, mir auch nur die geringsten Notizen oder Dokumentationen zu meiner Reise zu machen. Eine kurze Whatsapp an die mir wichtigsten Personen, dass ich noch lebe, danach gehen die Lichter aus. Unsere Wecker sind auf 4:30 Uhr eingestellt. Das muss an Schlaf reichen, es ist schließlich ein Rennen und keine Kaffeefahrt. Wir haben heute 237 km und 3.600 Höhenmeter geschafft.

Wir wachen noch vor der Morgendämmerung auf, quälen uns aus den Schlafsäcken, packen zusammen und begeben uns wieder auf die Strecke. Die Strecke muss peinlich genau eingehalten werden, möchte man nicht disqualifiziert werden. Wir haben kleine GPS-Tracker dabei, damit unsere Fahrt nachvollzogen werden kann. Nur wer den Track fährt, wird gewertet. Man darf ihn verlassen, muss aber genau an der Stelle wieder rauffahren. Wir verwenden GPS-unterstützte Radcomputer und Navigationsgeräte, um den vorgegebenen Track fahren zu können. Teilweise führt er uns über so unscheinbare kleine Waldwanderwege oder Äcker, dass ich daran zweifle, dass das überhaupt ein offizieller Weg ist, der in irgendeiner Datenbank auftaucht.
Michi und ich bleiben an diesem zweiten Tag zusammen. Wir unterhalten uns unentwegt. Er ist ein sehr angenehmer Zeitgenosse und ist stets hilfsbereit. Auf unserer Fahrt treffen wir Linus aus Dresden, Florian und Daniel von gestern und auch wieder Constantin. Und immer wieder Jakub, einen stillen Teilnehmer aus Tschechien. An den Anstiegen bin ich in der Regel schneller als Michi, warte aber oben auf ihn, da mir seine Gesellschaft sympathisch ist. Bei km 308 biege ich in ein Radgeschäft ab, um meine Speiche zu reparieren. Das kostet mich 45 Minuten. Michi war weitergefahren, aber da ewig viele Anstiege folgen werden, hole ich ihn nachmittags bereits wieder ein. Wir fahren an diesem zweiten Tag 253 km und kämpfen uns 4.400 Höhenmeter durch die erst schwäbische und dann bayerische Berglandschaft hinauf.

Es wird jetzt abends kalt. Unter zehn Grad. Ich frage mich, was mit dem Sommer passiert ist. Letzte Woche schwitzte ich noch bei fast 40 Grad im Büro. Unsere nächtliche Unterkunft ist nicht viel mehr als ein Dach und die Nacht ist kalt. Aber ich überstehe es für die 4 Stunden Schlaf. Morgens fahren wir ohne Frühstück weiter. Es ist so kalt, dass ich mir zum Schutz meiner Finger ein paar Socken darüber ziehen muss. Erneut muss ich eine romantische Vorstellung – diesmal von meinem mitgebrachten Müsli und einer Tasse selbstgekochtem Kaffee zum Frühstück verwerfen – es kostet zu viel Zeit, bzw. ist schwierig, wenn der Mitfahrer das alles nicht mithat.
Es wird 2 Stunden in der Kälte dauern, bis wir etwas finden. In einem kleinen bayerischen Nest entdecken wir einen Tante-Emma-Laden, wo man uns nicht nur frisch belegte Brötchen, sondern auch einen leckeren Kaffee Créma kredenzt und wir unsere Vorräte auffüllen können. Ich nutze die Gunst der Stunde und putze mir die Zähne in der Toilette. Ich sehe furchtbar aus – bin bereits jetzt mager und von der Anstrengung und dem wenigen Schlaf gekennzeichnet. Zudem ist mein rechtes Auge entzündet. Aber mir geht es gut und wir radeln weiter. Erneut werden wir viel Höhenmeter absolvieren, 3.200 werden es am Abend sein. Ich lasse dabei Michi irgendwo im bayerischen Fichtelgebirge zurück. Aber ich zahle einen Preis, denn heute fängt meine rechte Achillessehne an zu zwicken. Es verschlimmert sich zwar, aber gegen Abend geht es wieder. Ich wollte aufgrund der Sehne und der hier herrschenden Kälte zum Übernachten in einen Gasthof an der Strecke einkehren, aber wie in Bayern nicht unüblich, ist Montag und Dienstag Ruhetag. Also schlage ich beim Einsetzen der Dämmerung mein Zelt mitten im Wald, aber immerhin an einer Jägerhütte, auf. Dort gibt es nicht nur ein Außenwaschbecken mit fließendem Wasser, sondern tatsächlich auch einen Lichtschalter. Luxus pur. Die Temperatur sinkt drastisch und als ich morgens um kurz vor 5 Uhr meine Sachen zusammenpacke, sind es 3 Grad. Ich werde von einem Peter eingeholt, der die ganze Nacht durchgefahren war, um Boden gut zu machen. Ich versuche mit ihm mitzufahren, aber die Schmerzen in der Sehne sind noch da und ich muss ihn ziehen lassen. Ich komme mir vor wie im Winter, die Kälte ist enorm. Ich schlottere auf meinem Rad, ich war auf Sommer eingestellt. Das Thermometer klettert nur sehr widerwillig als der Tag anbricht und die Abfahrten in der Kälte sind grausam.


Gegen Mittag, nach 1,5 endlosen Tagen im Wald kreuzen wir die Tschechische Grenze und gelangen in einem Dorf in eine Art Chinatown mit bis unter´s Dach mit Ramsch vollgepackten Verkaufsbuden. Kulturschock. Ein Typ namens Dan schließt zu Peter und mir auf, den ich unterwegs wieder eingesammelt hatte. Wir sind alle drei über das Treiben konsterniert. Ich besorge mir Schmerz- und Koffeintabletten in einer Apotheke. Die Dame an der Kasse spricht deutsch und ich kann mit Euro bezahlen. Die Erschöpfung ist mittlerweile enorm. Wenn ich bemerke, dass ich tagsüber anfange Schlangenlinien zu fahren, halte ich an einer Bank, lege mich ohne irgendwelche Unterlagen einfach so darauf und falle sofort in einen 20-30 minütigen Powernap. Danach geht es weiter. Es geht zum Fichtelberg hinauf, mit 1.215 Metern der höchste Punkt und gleichzeitig die Hälfte der Tour.

 

Es ist kalt und windig dort oben, aber die Sonne strahlt. Leider sind die Anstiege noch längst nicht vorbei. 3.600 Höhenmeter warten auf der heutigen Etappe von 200 km. Mehr schaffe ich aufgrund meiner Sehne nicht. Mittlerweile zwickt nun leider auch die Linke. Ich übernachte in einer Wanderhütte. In deren Innerem befinden sich ein Tisch samt zwei Bänke. Die Tür ist sogar von innen verriegelbar. Welch Luxus. Ich koche mir ein Essen und genieße die Stille. Überhaupt ist immerzu Stille. Ich fahre seit 4 Tagen und über 900 km durch Deutschland und bin kaum einem Auto begegnet. Das ist ein schöner Aspekt dieser Reise, die so abseits von allen gängigen Routen ist, dass man komplett vergisst, dass man sich im dicht besiedelten, automobilen Transitland Nummer eins im Herzen Europas befindet. Kein Autolärm, keine Abgase. Herrlich.
Leider ist der Dielenboden meiner Behausung für die nächtliche Kälte komplett durchlässig. In der Hütte fällt die Temperatur auf 5 Grad und ich friere so sehr, dass ich kein Auge zudrücken kann. Um halb vier Uhr morgens wickele ich die Rescuedecke um meinen Schlafsack und kann für 1,5 Stunden schlafen. Als ich nach dem Aufstehen alles fertig habe, holen mich Michi, Florian und Dan ein. Am heutigen fünften Tag werden meine Sehnenprobleme stärker werden. Beide Achillessehnen schmerzen nun. Ich kann nur mit Schmerzmitteln weiterfahren. Diese wiederum verderben mir den Magen. Michi, der Krankenpfleger ist, kennt das Symptom und gibt mir ein paar Tabletten eines Gegenmittels. Na, das wird ja immer besser, denke ich, der ich nie irgendwelche Medikamente zu mir nehme und fühle mich wie ein Doper. Aber ich halte die Schmerzen mittlerweile nur noch so aus. Ich verliere wieder den Anschluss an die Gruppe, da ich nicht wirklich gut in die Pedale treten kann. Ich bewege mich heute an der Tschechischen Grenze. Es geht über nie enden wollende, wurzelüberwucherte Waldtrails und Abfahrten, deren Steine so grob sind, dass ich befürchte, dass mein Rad zerbricht. Es hält, aber jeder Schlag geht direkt in meine schmerzenden Sehnen und plötzlich muss ich weinen.

Ich weine aus Verzweiflung über die Schmerzen, meiner Erschöpfung und mein immer langsamer werdendes Tempo. 15 Minuten lang fließen die Tränen wie Wasserfälle aus meinen Augen, während ich radelnd laut vor mich hinschluchze. Niemand sieht mich und niemand hört mich auf diesem gottverlassenen Track, den ich nun unter Aufbietung meiner letzten hinschwindenden Willensstärke entlangkrieche. Aber irgendwann sind die grobsteinigen Rüttelpfade zu Ende. Ich werde mit einem Stück asphaltierter Strecke belohnt. Im nächsten Dorf, das ich erreiche, finde ich zudem eine Dönerbude und verschlinge den besten Döner, den ich je gegessen habe.


So will ich fortfahren und belohne mich an der nächsten Tankstelle mit einem Eis und einer Cola. Ich kann jetzt wieder einigermaßen gut fahren und habe Hunger, fühle mich lebendig und kraftvoll, wie ich es von mir kenne. Als es dämmert halte ich an einem kleinen Laden an, der tatsächlich noch auf hat. Im Osten Deutschlands ist 18 Uhr Ladenschluss nichts Ungewöhnliches. Als ich die Preisschilder studiere, muss ich feststellen, dass ich in Polen bin. Zloty. Mit Hand und Fuß kann ich der Inhaberin entlocken, dass ich auch mit Euro bezahlen kann. Ich lege einen kleinen Berg Schokoriegel und Powergetränke auf den Tresen, alles mir unbekannte polnische Artikel und staune, dass ich nur 6 Euro bezahlen muss. Ich rolle weiter und werde von Florian eingeholt, der zwischendurch ein abgebrochenes Pedal durch einen Abstecher in eine Stadt reparieren musste. Wir fahren in der Dämmerung zusammen weiter. Es läuft auf den ebenen Straßen sehr gut. Um zwölf Uhr nachts holen wir Michi und Co. am vierten Checkpoint ein. Dort liegen alle schlafend und ich beschließe, weil es gerade so gut rollt, weiterzufahren. Florian bleibt zurück.
Ich kämpfe mich durch ein Waldstück, in dem der Pfad im Grunde nicht zu erkennen ist, schon gar nicht in pechfinsterer Nacht. Ich muss das Rad mehrmals über querliegende Bäume wuchten. Und dann beginnen die schier nie enden wollenden Sandstraßen im Osten Deutschlands. Der Sand ist fein wie Puderzucker und die Reifen sinken darin regelrecht ein. Es ist jetzt flach, aber die Fahrgeschwindigkeit ist geringer als auf der härtesten Steigung. Oft muss ich absteigen und schieben. Ich kämpfe weiter durch den Sand und gegen die wieder erstarkenden Schmerzen. Ich möchte in den Sonnenaufgang hineinfahren. Aber dann kommt der Regen. Als er zunehmend stärker wird, schlage ich nach 284 km und 3.000 Höhenmetern an diesem Tag mein Zelt auf. Mitten im Nirgendwo im Wald.
In den letzten drei Stunden bin ich gerademal 25 km vorangekommen. Ich möchte eine Stunde lang den Regen abwarten. Ich koche mir ein Essen und falle dann ohne Schlafsack oder Luftmatratze in einen tiefen Schlaf. Als um 4 Uhr mein Wecker geht, trommelt es noch ordentlich gegen das Zeltdach. Es wird sich herausstellen, dass es sich nach mehr anhört als es ist, denn als ich endlich um 7 Uhr beschließe, trotz Regen weiterzufahren, ist es nicht so schlimm. Die anderen sind natürlich mittlerweile an mir vorbeigezogen. Ich packe das nasse Geraffel zusammen und fahre weiter.

Der Regen wird an diesem sechsten Tag erst sehr spät aufhören, die Schmerzen gar nicht. Der Regen geht sogar in Starkregen über. Ich werde nass bis auf die Haut und kühle aus. Ich zerschneide meine Rescuedecke und wickele mich unter den Radklamotten damit ein, um irgendwie die Wärme halten zu können. Die Sand- und Waldstraßen haben sich in regelrechte Matschtümpel verwandelt. Mein Rad und meine Klamotten setzen sich komplett mit dem Dreck zu. Ich baue immer mehr ab. Als der Sand aufhört, fangen wieder Waldtrails entlang irgendwelcher Seen an. Die Trails sind rutschig und teilweise nicht fahrbar. Wieder das Rad tragen und schieben. Als ich eine steile Waldtreppe hinauf muss, schreie ich vor Schmerzen in den Sehnen. Die Schmerzen sind jetzt so dominant, dass ich nur noch daraus bestehe. Ich fange an, an allem zu zweifeln, auch am Radfahren an sich. Ich, der größte Radenthusiast unter dem Himmel. Ich werde immer langsamer. Ich wollte heute zumindest den fünften Checkpoint erreichen, hätte dafür 220 km fahren müssen. Als ich um 18 Uhr abends aber nur 138 km auf der Uhr habe und eine Landstraße kreuze, falle ich erschöpft vom Rad.
Ich kann vor Schmerzen und Erschöpfung kaum klar denken und es dämmert mir, dass ich die Straße nicht überqueren kann, denn auf der anderen Seite geht es sofort in den nächsten, für mich jetzt unüberwindlich erscheinenden Waldtrail. Ich beschließe, für heute abzubrechen. Ein Hotelzimmer, den Sehnen ein wenig Ruhe gönnen und morgen weitermachen. Aber mir schwant bereits, dass das der Gesamtabbruch sein könnte. Und so wird es kommen.
Bei km 1.308 verlasse ich den Track, um nicht darauf zurückzukehren, 350 km vor dem Ziel. Im Hotel im Örtchen Tiefensee im östlichen Osten bekomme ich ein Zimmer. Es duftet herrlich aus der Küche. Obwohl an vielen Tischen noch gegessen und serviert wird, möchte man mir ein Abendessen nicht mehr servieren, da es 5 Minuten nach 20 Uhr ist. Na egal, eine Küche habe ich ja mit.
Als ich mich im Zimmer zum ersten Mal seit zwei Tagen von den Klamotten und zum ersten Mal von den Socken überhaupt befreie, muss ich feststellen, dass an den Sehnen mittlerweile dicke schmerzhafte Schwellungen entstanden sind. Ich kenne diese Schwellungen bereits von einer anderen Sehne, daher bin ich mir bei der Eigendiagnose recht sicher und weiß auch, dass damit kein Weiterfahren ist. Es tut so weh, dass ich kaum laufen kann. Ich weiß jetzt, dass ich heute lerne zu scheitern. Es fühlt sich nicht gut an, ich bin am Boden zerstört. Am nächsten Tag werden meine Wegbegleiter Michi, Linus, Constantin und Florian nach 6 Tagen und 9 Stunden am Ziel auf Rügen ankommen und sich den 13. Platz teilen. Von den 150 Startern werden nur 63 das Rennen abschließen. Als Letzter erreicht nach 14 Tagen und 11 Stunden der Lars das Ziel, den ich im Zug kennen gelernt hatte. Ich freue mich für ihn und sende ihm meine Glückwünsche in die WhatsApp-Gruppe. Zu dem Zeitpunkt bin ich schon seit über 7 Tagen im Erholungsurlaub. Rad fahren ist nicht wirklich drin, ich bin zur Pause gezwungen. Aber die Sehnen heilen allmählich ab. Und mit deren Heilung wächst mein Appetit auf das nächste Abenteuer. Vielleicht die Length of Sweden nächstes Jahr im Sommer – 2.100 km der Länge nach durch mein Heimatland. Auf geht´s.